Kulturdimensionen
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und reflektieren Sie, wie Sie Ihren Kollegen Ihre Entscheidungen mitteilen oder wie Sie eine Familie darüber informieren, dass sie demnächst abgeschoben wird. Erwarten Sie, dass jemand aus einer anderen Kultur, der die gleichen Aufgaben hat wie Sie, sich ebenso ausdrücken würde?
Sie haben das vermutlich verneint. Aber wie kann man vergleichen, wie Menschen aus verschiedenen Kulturen in bestimmten Situationen agieren und reagieren?
Eine Möglichkeit besteht in der Arbeit mit Kulturdimensionen. Diese beruhen auf der Annahme, dass es universelle Kategorien menschlichen Verhaltens gibt, die allen Kulturen eigen sind, deren Werte sich aber kulturspezifisch darin unterscheiden, wie Lösungen für bestimmte Probleme gefunden werden (Layes, 2005; Thomas, 2010).
Kulturdimensionen ermöglichen die Beobachtung und Klassifizierung von Verhaltensweisen in Nationalkulturen, was dabei helfen kann, ein allgemeines Verständnis für diese zu entwickeln. Sie schaffen eine Basis, um Verhaltensweisen zu reflektieren, die uns fremd erscheinen.
Verschiedene Kulturdimensionen sind entwickelt worden, um die verschiedenen Methoden zu definieren und zu illustrieren, mit denen Angehörige einer Kultur mit den folgenden Problemstellungen umgehen, die in allen Kulturen existent sind. Die hier beschriebenen Kulturdimensionen wurden übernommen aus den Werken der renommierten Wissenschaftler Geert Hofstede, Fons Trompenaars und Edward T. Hall, die die Kulturdimensionen entwickelt haben sowie aus der Globe Studie.
Hinweis: Die Zuschreibung “typischer” Verhaltensweisen birgt natürlich das Risiko der Stereotypenbildung. Man muss jedoch berücksichtigen, dass Kulturdimensionen unbewusste Orientierungen darstellen, die darauf beruhen, was beobachtet werden kann und was für die meisten Mitglieder einer bestimmten Kultur normal ist. Es darf nicht vergessen werden, dass man eine andere Kultur nicht durch die eigene Kulturbrille betrachten darf sondern sich ihr annähert, indem man sie neutral beobachtet und nicht vorschnell bewertet.
Machtdistanz
Sind Sie mit hierarchischen Strukturen in der Polizei oder NGOs vertraut? Sprechen Sie Ihren Chef genauso an wie Ihre Kollegen?
Diese Dimension bildet ab, inwieweit Mitglieder einer Kultur Ungleichheiten in sozialen Beziehungen akzeptieren. In Kulturen mit hoher Machtdistanz wird ein großes Machtgefälle als unproblematisch betrachtet und daher auch erwartet. Das führt zu vielschichtigen, undurchdringlichen Hierarchien.
In Kulturen mit niedriger Machtdistanz werden große Machtgefälle innerhalb sozialer Beziehungen als sehr problematisch betrachtet und daher häufig heftig bekämpft. Das führt entsprechend zu flachen, durchlässigeren Hierarchien.
Niedrige Machtdistanz | Hohe Machtdistanz |
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Flache Organisationspyramiden | Hohe Organisationspyramiden |
Konsultativer Führungsstil | Autoritärer Führungsstil |
pragmatisches Verhältnis zwischen Unterstellten und Vorgesetzten | polarisiertes Verhältnis zwischen Unterstellten und Vorgesetzten |
Individualismus/Kollektivismus
Wie loyal sind Sie gegenüber Ihrer Familie, Ihren Freunden oder Ihrer Institution?
Diese Dimension zeigt, “…in welchem Ausmaß sich die Mitglieder einer Kultur als Teil eines sozialen Beziehungsgefüges definieren und sich diesem gegenüber verpflichtet fühlen.” (Thomas, 2007, S. 62) Mitglieder kollektivistischer Kulturen betrachten sich als Teil einer Gruppe und versuchen, ihre Ziele denen der Gruppe anzupassen. Mitglieder individualistischer Kulturen verstehen sich primär als autonome Individuen und versuchen, ihre persönlichen Ziele unabhängig von denen der Gruppe zu erreichen.
Kollektivismus | Individualismus |
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Menschen handeln im Interesse der Gruppe, der sie angehören | Menschen handeln in ihrem eigenen Interesse |
Bezugspunkt ist die Gruppe / Familie | Bezugspunkt ist das Individuum selbst |
Unsicherheitsvermeidung
Wie wohl fühlen Sie sich, wenn Ihnen die Arbeitsabläufe in ihrem Polizeirevier oder Ihrer Institution nicht klar sind?
Diese Dimension zeigt, in welchem Ausmaß unklare und mehrdeutige Situationen Unsicherheit und Besorgnis in einer Kultur erzeugen. Für Mitglieder von Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung sind Regeln sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich sehr verbindlich. Unklare, nicht geregelte Situationen rufen ein Gefühl von Desorientierung hervor, dass bis zu Aggressivität führen kann. Dementsprechend bilden sich sehr komplexe und rigide gesellschaftliche Regelsysteme aus.
Für Mitglieder von Kulturen mit schwacher Unsicherheitsvermeidung sind Regeln im privaten und öffentlichen Bereich weniger verbindlich. Auf Chaos und unklare Situationen reagieren sie relativ gelassen. Entsprechend bilden sich flexible Regelsysteme.
Schwache Unsicherheitsvermeidung | Starke Unsicherheitsvermeidung |
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Normen und Regeln sind weniger wichtig bei der Vermeidung unerwarteter Ergebnisse | Normen und Regeln strukturieren das Handeln, um unerwartete Ergebnisse zu vermeiden. |
Genauigkeit und Pünktlichkeit müssen erlernt und trainiert werden | Genauigkeit und Pünktlichkeit liegen einem im Blut |
Geschlechtergleichheit (Globe)
Wieviele weibliche Vorgesetzte haben Sie in Ihrer Institution?
Kulturen gehen mit Geschlechtern und Ungleichheiten unterschiedlich um: sie minimieren sie in unterschiedlichem Ausmaß.
Hohe Geschlechtergleichheit | Niedrige Geschlechtergleichheit |
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Keine sichtbare traditionelle Rollenverteilung | Sichtbare traditionelle Rollenverteilung |
Gleiche Bildung | Frauen weniger gebildet |
Beziehungen und Regeln: Universalismus/Partikularismus (Fons Trompenaars)
Stellen Sie sich vor, Sie treffen als Polizeibeamter oder Mitarbeiter einer NGO auf eine Person, die Ihre Hilfe benötigt. Würden Sie dieser Person auch dann helfen, wenn Sie gegen eine Regel verstoßen müssten?
Diese Dimension bildet ab, “…in welchem Ausmaß in einer Kultur davon ausgegangen wird, dass es möglich ist, allgemein gültige Regeln für das menschliche Zusammenleben festzulegen und ihre Einhaltung unter allen Umständen einzufordern und durchzusetzen.” (Thomas 20017, S. 64) Während universalistische Kulturen davon überzeugt sind, dass das möglich ist, sind partikularistische Kulturen eher auf besondere Umstände fokussiert und lehnen die strikte Einhaltung von Regeln ab.
Universalismus | Partikularismus |
Regeln und Normen sind kontextunabhängig. | Fokus auf jeweiligen Umständen, Ausnahmen möglich |
Vereinbarungen von großer Bedeutung | Beziehungen von größerer Bedeutung |
High/low Context (Hall)
Wie genau informieren Sie Asylbewerber darüber, dass ihr Asylantrag keine Aussicht auf Bewilligung hat? Wie direkt würden Sie einem Kollegen sagen, dass ihm / ihr ein Fehler unterlaufen ist?
In low Context Kulturen sagt man was man meint. Der Fokus der Mitteilung liegt auf deren wörtlichen Bedeutung.
High Context Kulturen kommunizieren indirekt. Es muss zwischen den Zeilen gelesen werden und um Botschaften korrekt dekodieren zu können, muss die nonverbale Kommunikation beachtet werden.
High Context Kulturen | Low Context Kulturen |
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Verdeckte, indirekte Botschaften – viele Kontextelemente helfen beim Verständnis | Offene, direkte Botschaften – wenig Information muss dem Kontext entnommen werden |
hoher Anteil nonverbaler Kommunikation | nonverbale Kommunikation von unter-geordneter Bedeutung – Fokus liegt auf verbaler Kommunikation |
Das Konzept “Gesicht”
Das Konzept “Gesicht” wird nicht als Kulturdimension definiert, jedoch handelt es sich um ein Verhaltensmuster, das in vielen Kulturen verbreitet ist. Es scheint ein universelles Muster zu sein, das im Laufe der Zeit in den Kulturen unterschiedlich ausgeprägt wurde.
‘Gesicht’ wird meistens assoziiert mit den asiatischen Kulturen, insbesondere der chinesischen. Es ist jedoch auch in westlichen Gesellschaften geläufig – in kulturell angepasster Form – , wo es sich zeigt in den Auffassungen von Ehre, Prestige, gutem/schlechtem Erscheinungsbild und mit dem Konzept von Scham und Angst verbunden ist.
In asiatischen Kulturen, wie auch in westlichen, beinhaltet “Gesicht” das Selbst und wie sowohl Selbst als auch andere von bestimmtem Verhalten profitieren können. Der Verstoß gegen soziale Normen kann zum Gesichtsverlust führen.
Insbesondere in asiatischen Kulturen handeln die Menschen möglichst so, dass sie einen Gesichtsverlust vermeiden (sowohl bei sich als auch beim Gegenüber) und nach Gesicht streben (sowohl nach eigenem als auch dem des Partners), was sich letzten Endes wiederum positiv auf das eigene Image auswirkt.