Kulturdimensionen

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und reflektieren Sie, wie Sie Ihren Kollegen Ihre Entscheidungen mitteilen oder wie Sie eine Familie darüber informieren, dass sie demnächst abgeschoben wird. Erwarten Sie, dass jemand aus einer anderen Kultur, der die gleichen Aufgaben hat wie Sie, sich ebenso ausdrücken würde?

Sie haben das vermutlich verneint. Aber wie kann man vergleichen, wie Menschen aus verschiedenen Kulturen in bestimmten Situationen agieren und reagieren?

Eine Möglichkeit besteht in der Arbeit mit Kulturdimensionen. Diese beruhen auf der Annahme, dass es universelle Kategorien menschlichen Verhaltens gibt, die allen Kulturen eigen sind, deren Werte  sich aber kulturspezifisch darin unterscheiden, wie Lösungen für bestimmte Probleme gefunden werden (Layes, 2005; Thomas, 2010).

Kulturdimensionen ermöglichen die Beobachtung und Klassifizierung von Verhaltensweisen in Nationalkulturen, was dabei helfen kann, ein allgemeines Verständnis für diese zu entwickeln. Sie schaffen eine Basis, um Verhaltensweisen zu reflektieren, die uns fremd erscheinen.

Verschiedene Kulturdimensionen sind entwickelt worden, um die verschiedenen Methoden zu definieren und zu illustrieren, mit denen Angehörige einer Kultur mit den folgenden Problemstellungen umgehen, die in allen Kulturen existent sind. Die hier beschriebenen Kulturdimensionen wurden übernommen aus den Werken der renommierten Wissenschaftler Geert Hofstede, Fons Trompenaars und Edward T. Hall, die die Kulturdimensionen entwickelt haben sowie aus der Globe Studie.

 

Hinweis: Die Zuschreibung “typischer” Verhaltensweisen birgt natürlich das Risiko der Stereotypenbildung. Man muss jedoch berücksichtigen, dass Kulturdimensionen unbewusste Orientierungen darstellen, die darauf beruhen, was beobachtet werden kann und was für die meisten Mitglieder einer bestimmten Kultur normal ist. Es darf nicht vergessen werden, dass man eine andere Kultur nicht durch die eigene Kulturbrille betrachten darf sondern sich ihr annähert, indem man sie neutral beobachtet und  nicht vorschnell bewertet.

 

Machtdistanz

Sind Sie mit hierarchischen Strukturen in der Polizei oder NGOs vertraut? Sprechen Sie Ihren Chef genauso an wie Ihre Kollegen?

Diese Dimension bildet ab, inwieweit Mitglieder einer Kultur Ungleichheiten in sozialen Beziehungen akzeptieren. In Kulturen mit hoher Machtdistanz wird ein großes Machtgefälle als unproblematisch betrachtet und daher auch erwartet. Das führt zu vielschichtigen, undurchdringlichen Hierarchien.

In Kulturen mit niedriger Machtdistanz werden große Machtgefälle innerhalb sozialer Beziehungen als sehr problematisch betrachtet und daher häufig heftig bekämpft. Das führt entsprechend zu flachen, durchlässigeren Hierarchien.

 

Niedrige Machtdistanz Hohe Machtdistanz
Flache Organisationspyramiden Hohe Organisationspyramiden
Konsultativer Führungsstil Autoritärer Führungsstil
pragmatisches Verhältnis zwischen Unterstellten und Vorgesetzten polarisiertes Verhältnis zwischen Unterstellten und Vorgesetzten
  • Hierarchie entsteht, weil einfach “jemand der Chef sein muss”
  • Hierarchie widerspiegelt bestehende Ungleichheit
  • Geringe Anzahl an Vorgesetzten
  • Hohe Anzahl an Vorgesetzten

 

In einigen Bereichen wie z.B. der Polizei zeigt sich die Dimension “Machtdistanz” in der starken Differenzierung von Dienstgraden, Aufgaben und Zuständigkeiten. Man kann sie auch daran erkennen, wie Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen mit ihren Kunden umgehen. In Ländern mit hoher Machtdistanz können diese Mitarbeiter weniger entgegenkommend und hilfsbereit erscheinen als in Ländern mit niedriger Machtdistanz.

Grundsätzlich erkennt man die Dimension daran, welche Erwartungen der Unterstellte an den Chef hat und wie der Chef Informationen übermittelt. In einigen Ländern wie z.B. im Nahen Osten, aber auch im Mittelmeerraum (z. B. in Frankreich und Italien) erwarten Unterstellte von ihrem Vorgesetzten autoritäres Verhalten.

 

Individualismus/Kollektivismus

Wie loyal sind Sie gegenüber Ihrer Familie, Ihren Freunden oder Ihrer Institution?

 

Diese Dimension zeigt, “…in welchem Ausmaß sich die Mitglieder einer Kultur als Teil eines sozialen Beziehungsgefüges definieren und sich diesem gegenüber verpflichtet fühlen.” (Thomas, 2007, S. 62) Mitglieder kollektivistischer Kulturen betrachten sich als Teil einer Gruppe und versuchen, ihre Ziele denen der Gruppe anzupassen. Mitglieder individualistischer Kulturen verstehen sich primär als autonome Individuen und versuchen, ihre persönlichen Ziele unabhängig von denen der Gruppe zu erreichen.

 

Kollektivismus Individualismus
Menschen handeln im Interesse der Gruppe, der sie angehören Menschen handeln in ihrem eigenen Interesse
Bezugspunkt ist die Gruppe / Familie Bezugspunkt ist das Individuum selbst
  • enge soziale Beziehungen
  • lockere soziale Beziehungen
  • Verantwortung für Aufgaben bei der Gruppe
  • Verantwortung für Aufgaben beim Einzelnen

 

Die Dimension ‘Individualismus/Kollektivismus’ erkennt man in einigen eher kollektivistischen Kulturen wie einigen asiatischen, afrikanischen, osteuropäischen und nahöstlichen daran, wie eng die Familienbeziehungen sind und welche Rolle Loyalität und Zusammenhalt innerhalb der Familie bzw. Gruppe spielen.

Mitunter entscheidet die gesamte Familie über das Wohl der einzelnen Mitglieder. Dabei kann es passieren, dass die Entscheidungen der Familie die Wünsche des Einzelnen nicht berücksichtigen. Im Interesse des Gemeinwohls der gesamten Familie können diese ignoriert werden. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Familie entscheidet, dass eines ihrer Mitglieder nach Europa auswandern soll, um dort sein Glück zu machen. Oft schickt die Person, die emigriert ist, regelmäßig Geld zum Unterhalt der Familie.  In diesen Fällen hat die Entscheidung der Familie Vorrang vor dem Willen des Einzelnen.

 

Unsicherheitsvermeidung

Wie wohl fühlen Sie sich, wenn Ihnen die Arbeitsabläufe in ihrem Polizeirevier oder Ihrer Institution nicht klar sind?

 

Diese Dimension zeigt, in welchem Ausmaß unklare und mehrdeutige Situationen Unsicherheit und Besorgnis in einer Kultur erzeugen. Für Mitglieder von Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung sind Regeln sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich sehr verbindlich. Unklare, nicht geregelte Situationen rufen ein Gefühl von Desorientierung hervor, dass bis zu Aggressivität führen kann. Dementsprechend bilden sich sehr komplexe und rigide gesellschaftliche Regelsysteme aus.

Für Mitglieder von Kulturen mit schwacher Unsicherheitsvermeidung sind Regeln im privaten und öffentlichen Bereich weniger verbindlich. Auf Chaos und unklare Situationen reagieren sie relativ gelassen. Entsprechend bilden sich flexible Regelsysteme.

 

Schwache Unsicherheitsvermeidung Starke Unsicherheitsvermeidung
Normen und Regeln sind weniger wichtig bei der Vermeidung unerwarteter Ergebnisse Normen und Regeln strukturieren das Handeln, um unerwartete Ergebnisse zu vermeiden.
Genauigkeit und Pünktlichkeit müssen erlernt und trainiert werden Genauigkeit und Pünktlichkeit liegen einem im Blut
  • Dokumentation muss erlernt und trainiert werden
  • Dokumentation liegt einem im Blut
  • Die Macht des Vorgesetzten hängt von seiner Position ab
  • Die Macht des Vorgesetzen hängt davon ab, wie er mit Unsicherheit und Beziehungen umgeht

 

In Ländern mit niedriger Toleranz für unklare oder mehrdeutige Situationen zeigt sich diese Dimension daran, dass es klar definierte Strukturen und Regelwerke gibt, um unerwartete und daher belastende Ereignisse zu vermeiden. Wie zum Beispiel die Zuweisung von Wohnraum oder Sprachkursen für Migranten erfolgt, ist mehr oder weniger vorgeschrieben und strukturiert.

Konflikte können dann entstehen, wenn unterschiedliche Erwartungen an die Situation kollidieren. In einer multikulturellen Umgebung können klare und einfache Anweisungen an Kollegen und Subunternehmer sowie Regeln und Vorschriften, die neu angekommenen Migranten entweder in Papierform oder als sichtbare Zeichen oder Beschilderung übermittelt werden, denjenigen mit niedriger Toleranz für unstrukturierte und chaotische Situationen behilflich sein. Es ist auch vorstellbar, dass sich Mitarbeiter in Unterkünften mit niedriger Ambiguitätstoleranz während des Kontakts mit Migranten auf schriftliche Dokumente oder digital gespeicherte Details stützen können und dadurch nur wenig Zeit für die persönliche und direkte Kommunikation mit dem Hilfebedürftigen aufwenden müssen. In diesem Falle, wenn der Hilfebedürftige zum Beispiel Augenkontakt oder Gesten vermisst, könnte er sich missachtet fühlen oder nicht ernst genommen und dadurch das Vertrauen verlieren und weniger kooperieren.

 

Geschlechtergleichheit (Globe)

Wieviele weibliche Vorgesetzte haben Sie in Ihrer Institution?

Kulturen gehen mit Geschlechtern und Ungleichheiten unterschiedlich um: sie minimieren sie in unterschiedlichem Ausmaß.

 

Hohe Geschlechtergleichheit Niedrige Geschlechtergleichheit
Keine sichtbare traditionelle Rollenverteilung Sichtbare traditionelle Rollenverteilung
Gleiche Bildung Frauen weniger gebildet
  • Frauen in Führungspositionen
  • Weniger Frauen in Führungspositionen
  • Gleiche Karrierechancen für Männer und Frauen
  • Karriere für Männer Pflicht, für Frauen wahlweise

 

In einigen westlichen Kulturen mit niedriger Geschlechtergleichheit wie Deutschland, Österreich und einigen Mittelmeerländern (z.B. Italien, Spanien) aber auch in einigen Ländern des Nahen Ostens (z.B. Türkei, Ägypten, Iran) haben Männer dominante Rollen in der Gesellschaft inne.

Im Kontext von Vocal in Need zeigt sich diese Dimension in einer erkennbaren Rollenteilung: Männer sind “natürlich” Polizeichefs, NGO Geschäftsführer etc. – Frauen dagegen sind „natürlich“ Sekretärinnen, Assistentinnen etc.

Männer aus Ländern mit niedriger Geschlechtergleichheit nehmen nicht unbedingt gerne Anweisungen von höhergestellten Frauen an. Da sie nicht tolerieren, was in ihren Augen die Umkehr natürlich zugeschriebener Rollen darstellt, erscheint ihr Verhalten Frauen gegenüber womöglich arrogant und überheblich.

 

Beziehungen und Regeln: Universalismus/Partikularismus (Fons Trompenaars)

Stellen Sie sich vor, Sie treffen als Polizeibeamter oder Mitarbeiter einer NGO auf eine Person, die Ihre Hilfe benötigt. Würden Sie dieser Person auch dann helfen, wenn Sie gegen eine Regel verstoßen müssten?

Diese Dimension bildet ab, “…in welchem Ausmaß in einer Kultur davon ausgegangen wird, dass es möglich ist, allgemein gültige Regeln für das menschliche Zusammenleben festzulegen und ihre Einhaltung unter allen Umständen einzufordern und durchzusetzen.” (Thomas 20017, S. 64) Während universalistische Kulturen davon überzeugt sind, dass das möglich ist, sind partikularistische Kulturen eher auf besondere Umstände fokussiert und lehnen die strikte Einhaltung von Regeln ab.

 

Universalismus Partikularismus
Regeln und Normen sind kontextunabhängig. Fokus auf jeweiligen Umständen, Ausnahmen möglich
Vereinbarungen von großer Bedeutung Beziehungen von größerer Bedeutung

 

Im Kontext von Vocal in Need zeigt sich die Dimension “Universalismus – Partikularismus” zum Beispiel im Verhältnis von Polizei / NGO Mitarbeitern und Migranten.

In universalistischen Kulturen sind alle Migranten gleich und werden gemäß ihrem Status als Migranten behandelt. In partikularistischen Kulturen, wie in einigen muslimischen, arabischen und Kulturen des Mittelmeerraums kann es vorkommen, dass Menschen aus diesen Ländern aufgrund ihres guten Verhältnisses zum Personal eine bevorzugte Behandlung erwarten: der Polizeichef kann ein guter Freund sein oder persönliche Motive haben. In diesen Fällen werden Regeln auf der Grundlage persönlicher Gegebenheiten immer wieder neu ausgehandelt.

Das partikularistische System mag Mitgliedern universalistischer Kulturen unverständlich und unfair erscheinen, insbesondere dann, wenn sie keine Möglichkeit haben, ebenfalls eine bevorzugte Behandlung zu erfahren. Das partikularistische System kann Unsicherheit, Hilflosigkeit und Entrüstung hervorrufen. Mitglieder partikularistischer Kulturen können auf das universalistische Festhalten an Regeln mit Unverständnis und Verärgerung reagieren. Es kann sogar Aggression und Feindseligkeit erzeugen.

 

High/low Context (Hall)

Wie genau informieren Sie Asylbewerber darüber, dass ihr Asylantrag keine Aussicht auf Bewilligung hat? Wie direkt würden Sie einem Kollegen sagen, dass ihm / ihr ein Fehler unterlaufen ist?

 

In low Context Kulturen sagt man was man meint. Der Fokus der Mitteilung liegt auf deren wörtlichen Bedeutung.

High Context Kulturen kommunizieren indirekt. Es muss zwischen den Zeilen gelesen werden und um Botschaften korrekt dekodieren zu können, muss die nonverbale Kommunikation beachtet werden.

 

High Context Kulturen Low Context Kulturen
Verdeckte, indirekte Botschaften – viele Kontextelemente helfen beim Verständnis Offene, direkte Botschaften – wenig Information muss dem Kontext entnommen werden
hoher Anteil nonverbaler Kommunikation nonverbale Kommunikation von unter-geordneter Bedeutung – Fokus liegt auf verbaler Kommunikation
  • Keine offenen Gefühlsäußerungen
  • Körpersprache weniger bedeutsam
  • Starke Familienorientierung
  • Flexible und offene Gruppenmuster

 

Diese Dimension lässt sich zum Beispiel daran erkennen, wie Migranten ihre Probleme darlegen oder mit anderen über ihre Erfahrungen sprechen.

Migranten aus high Context Kulturen erscheinen aus Sicht einer low Context Kultur möglicherweise reserviert und emotional distanziert. Mitglieder von high Context Kulturen sind es gewohnt, Gefühle und Emotionen wie Unsicherheit und Angst mitzuteilen, ohne direkt auf die aktuelle Situation Bezug zu nehmen. Dieser Kommunikationsstil erscheint aus der Sicht von low Context Kulturen möglicherweise langatmig und kompliziert.

Low context Kulturen übermitteln Informationen, beispielsweise über den Stand eines Asylantrags, direkt, ohne sie hinter Metaphern oder anderen rhetorischen Mitteln zu “verbergen”. In den Augen der Kulturen, die das nicht gewohnt sind, erscheint der direkte Kommunikationsstil möglicherweise unfreundlich, beleidigend oder sogar schockierend.

 

Das Konzept “Gesicht”

Das Konzept “Gesicht” wird nicht als Kulturdimension definiert, jedoch handelt es sich um ein Verhaltensmuster, das in vielen Kulturen verbreitet ist. Es scheint ein universelles Muster zu sein, das im Laufe der Zeit in den Kulturen unterschiedlich ausgeprägt wurde.

‘Gesicht’ wird meistens assoziiert mit den asiatischen Kulturen, insbesondere der chinesischen. Es ist jedoch auch in westlichen Gesellschaften geläufig – in kulturell angepasster Form – , wo es sich zeigt in den Auffassungen von Ehre, Prestige, gutem/schlechtem Erscheinungsbild und mit dem Konzept von Scham und Angst verbunden ist.

In asiatischen Kulturen, wie auch in westlichen, beinhaltet “Gesicht” das Selbst und wie sowohl Selbst als auch andere von bestimmtem Verhalten profitieren können. Der Verstoß gegen soziale Normen kann zum Gesichtsverlust führen.

Insbesondere in asiatischen Kulturen handeln die Menschen möglichst so, dass sie einen Gesichtsverlust vermeiden (sowohl bei sich als auch beim Gegenüber) und nach Gesicht streben (sowohl nach eigenem als auch dem des Partners), was sich letzten Endes wiederum positiv auf das eigene Image auswirkt.

 

Es kann vorkommen, dass Migranten in bestimmten Situationen stolz oder zu selbstsicher erscheinen. Das sind Situationen, bei denen Angst oder Scham im Spiel sind – wenn sie beispielsweise nicht verstanden haben, was der Verantwortliche in der Unterkunft gesagt hat oder wenn sie anderer Meinung sind als ein Mitarbeiter der Einrichtung. Zuzugeben, dass sie etwas nicht verstanden haben oder anderer Meinung sind, würde nicht nur dazu führen, dass sie selbst das Gesicht verlieren, sondern auch die Person, mit der sie sprechen. Es ist daher mitunter schwierig, konkrete Aussagen zu erhalten.

Für den Verantwortlichen in der Unterkunft oder die Polizeibeamten kann es besser sein, sich vorzustellen, wie sich die Migranten fühlen und das auch zu kommunizieren. Das erleichtert es den Migranten vielleicht, ihre Gefühle oder Gedanken ausdrücken zu können.

Vorurteile und Stereotype

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen Sie sich jemanden vor, der aus Afrika oder Asien kommt. Was assoziieren Sie mit dieser Person?

Diese Assoziationen nennt man gemeinhin “Stereotype”. In der Literatur heißt es dazu häufig, dass Stereotype weder positiv noch negativ seien sondern vielmehr Hilfsmittel, um uns zu orientieren. Sie erleichtern unser Denken, indem Sie reduzieren was wir wahrnehmen und es kategorisieren. In diesem Sinne ist ein Stereotyp wertfrei.

Ein Vorurteil dagegen ist eine (meist negative) Bewertung einer Person oder Gruppe oder eines Landes usw. und beinhaltet (meist) negative Gefühle (Mast & Schmid Mast 2007). Bitte beachten Sie, dass wir auch positive Vorurteile haben, die jedoch seltener kritische Situationen erzeugen.

Wir können uns bemühen, Stereotype und Vorurteile zu vermeiden, indem wir:

  • lernen sie zu erkennen und
  • ihnen entgegenwirken durch eine objektive Analyse der interkulturellen Situation.

(Siehe Mast and Schmid Mast, 2007, die eine ähnliche Beschreibung vornehmen)

Interkulturelle Konflikte vermeiden

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und reflektieren Sie:  Wenn  ein Polizist dominant auftritt – spiegelt das seine Persönlichkeit wider? Wenn ein Ausländer freundlich ist und lächelt – zeigt sich darin seine Kultur? Wenn jemand laut ist – liegt das nur an seiner Persönlichkeit?

 

Welche Elemente beeinflussen unser Handeln und wie reagieren wir

 

Wie wir agieren und reagieren, hängt weder ausschließlich von unserer Persönlichkeit ab noch von der Situation, in der wir uns befinden, noch von unserer Kultur allein. Unser Handeln ist das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Elemente:

  • Charakter,
  • Situation und
  • Kultur.

(Attributionsdreieck siehe: Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., n.d.)

Umgang mit Interkulturellen Missverständnissen

Die Berücksichtigung der folgenden Ausführungen kann hilfreich sein, wenn wir versuchen wollen zu verstehen, warum es mit einer Person aus einem anderen Land zu einem Missverständnis gekommen ist.

Treten in interkulturellen Beziehungen Probleme auf, können die folgenden Schritte hilfreich sein:

  • Beobachten Sie die Situation aktiv.
  • Beschreiben Sie sich selbst und einer anderen Person die Situation.
  • Bedenken Sie, dass das, was Sie erleben ,in einem anderen Zusammenhang, in einer anderen Kultur eine völlig andere Bedeutung haben kann.
  • Beurteilen Sie nicht was Sie sehen sondern versuchen Sie herauszufinden, was das störende Verhalten in der anderen Kultur tatsächlich bedeutet.
  • Hören Sie aktiv zu, stellen Sie Fragen und seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass Ihr kultureller “Atlas” Sie automatisch dazu bringen wird, das Gehörte zu filtern und zu interpretieren.
  • Versuchen Sie die Werte, Annahmen und Einstellungen von Menschen aus anderen Kulturen zu verstehen.
  • Stellen Sie eine Beziehung her, indem Sie Gemeinsamkeiten finden.
  • Wahren Sie das Gesicht – respektieren Sie andere und verschaffen Sie sich Respekt.
  • Entwickeln Sie WIN-WIN Lösungen.

Die Anwendung dieser Schritte wird Ihnen dabei helfen, die andere Kultur zu verstehen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Bei Alexander Thomas heißt es, „… , dass ein gewisses Maß an Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion dessen, was man im Umgang mit ausländischen Partnern täglich erlebt, notwendig ist, um einen Prozess des interkulturellen Lernens und, darauf aufbauend, des Verstehens beziehungsweise des Erfassens von Bedingungen interkulturellen Handelns zu entwickeln, also interkulturelle Kompetenz zu realisieren.“ (Thomas 2007, S. 11).

Das Eisbergmodell: Eine Möglichkeit Kultur zu visualisieren

Kultur lässt sich mit einem Eisberg vergleichen, dessen Spitze sichtbar ist und dessen unsichtbarer Teil unter der Wasseroberfläche liegt. Der sichtbare Teil entspricht den Bereichen von Kultur, die wir physisch wahrnehmen können.

Welche Elemente würden Sie dem sichtbaren und welche dem unsichtbaren Bereich des Eisbergs zuordnen?

Sichtbar

Unsichtbar

  • Musik
  • Kleidung
  • Architektur
  • Sprache
  • Essen
  • Gestik
  • Religionsausübung
  • Religion
  • Beziehungen
  • Rolle der Familie
  • Handlungsmotivationen
  • Toleranz gegenüber
  • Veränderung
  • Einhalten von Regeln

 

Keines der sichtbaren Elemente ergibt einen Sinn ohne Verständnis dessen, was dahintersteckt und das wiederum verbirgt sich im unteren Teil des Eisbergs. Es sind diese unsichtbaren Elemente, durch die bestimmt wird, was im sichtbaren Teil zu sehen ist. Denkt man also an Kultur, dann sind im unteren Teil des Eisbergs Elemente enthalten wie religiöse Glaubensvorstellungen, Regeln in Beziehungen, die Rolle der Familie, Handlungsmotivationen, Toleranz gegenüber Veränderung, Umgang mit Regeln, Kommunikationsstile, Risikobereitschaft, Umgang mit Privatsphäre, Unterschiede zwischen Geschlechtern und anderes.

Ein gängiges Beispiel ist das unterschiedliche Verständnis der Geschlechterrollen, das sich darin zeigen kann, dass Mitglieder einiger Kulturen, insbesondere Muslime, Frauen in Führungspositionen nur zögerlich akzeptieren.

 

Wir haben alle unseren „Eisberg“

Das Konzept lässt sich vermutlich leichter verstehen wenn wir uns fragen, wie unser eigener kultureller Eisberg beschaffen ist.

                   

Bitte stellen Sie sich folgende Fragen:

  • Was bedeutet es für Sie, wenn jemand mit dem Sie verabredet sind, nicht pünktlich ist – ist das respektlos oder nicht so schlimm?
  • Wenn jemand Ihnen direkt sagt, dass Sie einen Fehler gemacht haben – ist das für Sie hilfreich oder fühlen Sie sich angegriffen?
  • Wird ein Meeting mit Smalltalk begonnen –ist das wichtig für Sie, um eine gute Atmosphäre herzustellen, oder eher ein notwendiges Übel?

Sicher haben Sie bemerkt wie schwierig es ist, diese Fragen zu beantworten. Es gibt kein einfaches „Richtig“ oder „Falsch“. Was für Sie richtig ist, mag für andere, die diese Fragen lesen, nicht ebenfalls richtig sein.

In den Fragen geht es um unsere Werte, Einstellungen, Kommunikationsmuster und Denkweisen. Sie alle gehören zu unserer Kultur und prägen uns seit unserer Kindheit.

Auf der Basis unserer eigenen Kultur interpretieren wir das sichtbare Verhalten anderer Menschen unterschiedlich: es erscheint uns mehr oder weniger fremd, akzeptabel oder inakzeptabel. Interkulturelle Konflikte entstehen häufig nicht dadurch, dass etwas, was wir sehen, nicht unseren Erwartungen entspricht, sondern weil das, was wir sehen, uns beunruhigt – und zwar unbewusst auf der Gefühlsebene. Erinnern Sie sich an das Eisbergmodell? Interkulturelle Konflikte entstehen dann, wenn zwei (oder mehr) Elemente aus dem unsichtbaren Bereich des Eisbergs aufeinanderprallen.

Definition: Was ist Kultur?

Stellen Sie sich vor, Sie müssen Ihr Land verlassen, weil Sie politisch verfolgt werden oder weil Krieg herrscht. Nach einer langen Reise kommen Sie endlich in einem fremden Land an. Wie würden Sie sich fühlen? Was würden Sie tun, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden?

Vielleicht fühlen Sie sich verloren und versuchen wahrscheinlich, Orientierungspunkte zu finden, etwas was Ihnen bekannt vorkommt und Ihnen helfen kann, sich zurechtzufinden. Diese vertrauten Punkte sind Teil Ihrer kulturellen Prägung. Mit der Zeit werden Sie durch Anpassung und Verständnis in der Lage sein, die kulturellen Elemente, die zu Ihnen passen, zu akzeptieren und letztlich zu übernehmen.

 

Es gibt zahlreiche Kulturdefinitionen. Bereits 1952 haben Kroeber und Kluckhohn mehr als 150 Definitionen des Begriffs „Kultur“ gezählt (Kroeber & Kluckhohn, 1952). Es folgen einige der bekanntesten. Kultur ist…

  • …der vom Menschen gemachte Teil der Umwelt (Harry Triandis)
  • …die kollektive Programmierung des Geistes (Geert Hofstede)
  • …die Art und Weise, wie eine Gruppe von Menschen Probleme löst (Fons Trompenaars)
  • …ein Orientierungssystem, das unsere Wahrnehmung von Normalität bestimmt (Alexander Thomas)
  • … ein unscharfes Konzept (Jürgen Bolten)

 

Kultur als Orientierungssystem

Nach Alexander Thomas manifestiert sich Kultur in einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisation oder Gruppe typischen Orientierungssystem. Wir benötigen dieses System, um uns intuitiv in der Welt zurechtzufinden, weil das System unsere Wahrnehmung, unser Denken, unsere Werte und unser Handeln bestimmt und beeinflusst. Es beruht auf spezifischen Symbolen (Sprache, Gestik, Bekleidung, Begrüßungsrituale etc.) und wird an die nachfolgende Generation weitergegeben, wodurch eine Gruppenidentität geschaffen wird und dem, was wir sehen, wahrnehmen und tun, Sinn gegeben wird.Das Orientierungssystem schafft einerseits Handlungsanreize und Handlungsmöglichkeiten, andererseits aber auch Handlungsbedingungen und setzt Handlungsgrenzen fest (Thomas, 2010). Für Migranten, die in einem neuen Land ankommen, bedeutet das, sich mit einem neuen Orientierungssystem auseinandersetzen zu müssen, mit neuen expliziten und impliziten Regeln, neuen kommunikativen Stilen Das kann ein anstrengender Prozess sein, ganz besonders deshalb, weil Menschen häufig unbewusst erwarten, dass sich Migranten in der Hauptkultur assimilieren.

Unscharfe Kulturen

Aufgrund von Globalisierung und neuen Migrationsphänomenen sind viele moderne Gesellschaften nicht mehr so homogen wie frühere. Diese modernen Gesellschaften zeichnen sich unter anderem durch starke Prozess- und Netzwerkorientierung aus (Bolten, 2013). Kultur wird definiert als Netzwerk von Reziprozitätsdynamiken zwischen Menschen und Gruppenkulturen. In diesem Sinne ist Kultur ‘fuzzy’ (Bolten, 2013). Sie hat keine klaren Grenzen. Menschen gehören mehr als nur einer Gruppe an  – d.h. sie sind Teil von mehr als einer Gruppenkultur. Daher tragen sie verschiedene Elemente aus anderen Gruppenkulturen in jede neue Gruppe, mit der sie in Kontakt treten. Daraus resultiert eine heterogene Struktur, wie wir sie in modernen Gesellschaften vorfinden.

Je nachdem aus welcher Entfernung man Kultur betrachtet, kann sie jedoch als mehr oder weniger homogen / heterogen wahrgenommen werden. Je genauer wir sie betrachten, desto mehr Unterschiede werden wir in einer Gesellschaft finden.

Modul 5 beinhaltet relevante Hintergrundinformationen für alle Szenarien, die in den anderen Modulen beschrieben werden.  Alle diese Szenarien, in denen Polizei und Sicherheitspersonal, Berater und Trainer sowie andere Mitarbeiter von Integrationseinrichtungen mit Ausländern und Migranten umgehen, haben eine interkulturelle Komponente. Verschiedene Kulturen – Werte, Einstellungen, Ansichten – begegnen sich und es kann zu Missverständnissen kommen. Modul 5 sensibilisiert Fachpersonal dafür, dass Kommunikation kulturelle Aspekte hat und stellt daher eine wichtige Ergänzung zu den Modulen 1-4 dar, die vorrangig auf Sprachtraining ausgerichtet sind.

Das Ziel des Moduls besteht darin,

  • grundlegendes Verständnis dafür zu entwickeln, was Kultur ist, und das kulturelle Bewusstsein zu stärken,
  • auf wichtige Ausschnitte aus der interkulturellen Forschung von Geert Hofstede, Fons Trompenaars, Edward Twitchell Hall, Alexander Thomas und der GLOBE Studie aufmerksam zu machen,
  • die interkulturelle Komponente anhand von Beispielen und Fallstudien darzustellen,
  • Fachpersonal darin zu bestärken, interkulturelle Belange in ihrem Umgang mit Ausländern und Migranten zu berücksichtigen,
  • Verhaltensempfehlungen zu geben, die auf den Kulturdimensionen beruhen, die für Nutzer von Vocal in Need von Bedeutung sind.

Das interkulturelle Trainingsmodul von Vocal in Need besteht aus drei Teilen:

  1. Allgemeine Einführung in Kultur
  • Definition von Kultur
  • Das Eisbergmodell von Kultur
  • Interkulturelle Konflikte vermeiden
  • Vorurteile und Stereotype
  • Kulturdimensionen
  1. Fallstudien
  • Das Fahrrad
  • Tumult in einem Flüchtlingszentrum
  • Persönliches Beratungsgespräch
  1. Interkulturelles Verständnis

Von Dezember 2018 bis April 2019 führten die Partner Umfragen zur Zielgruppe ihrer jeweiligen Länder durch. Mit Hilfe dieser Umfragen bei Sicherheitskräften und Mitarbeitern von Agenturen, die Integrationshilfe anbieten, haben sie in Erfahrung gebracht, welchen Herausforderungen sich diese Zielgruppen im Umgang mit Geflüchteten / Migranten stellen müssen und wie sie diese meistern können.

Dank der auf diese Weise ermittelten Daten konnten die Partner die (sprachlichen und kulturellen) Informationen  aus allen fünf Modulen in ihre eigene Sprache und den Kontext ihrer jeweiligen Länder übertragen. Insgesamt gab es 96 Antworten auf die VIN Umfrage (das sind 80 % der Zielstellung). Ihrem Profil nach gehörte die Mehrheit der Teilnehmer zum Lehrpersonal (28 Personen) bzw. zum Kreis der Coaches / Berater (15 Personen).