Interkulturelle Informationen zur Fallstudie “Das Fahrrad”
In muslimisch geprägten Gesellschaften hat ein Mann zumeist einen höheren Rang als eine Frau. Das erklärt sich daraus, dass der Koran (Sure 4, 34) dem Mann mehr Stärke zuschreibt sowie die Fähigkeit, Frauen wirtschaftlich versorgen zu können. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die Überlegenheit des Mannes von göttlicher Bestimmung ist.
Das bedeutet, dass die in Frage 1 aufgeführten Gründe kaum als Motive für das Verhalten des jungen Mannes in Frage kommen. Sein Verhalten beruht vielmehr auf dem genannten religiösen Glauben, was die Akzeptanz der Autorität einer Frau für ihn schwierig macht. Seiner Auffassung nach „muss“ der männliche Kollege im Rang höher stehen.
Zum Selbstverständnis muslimischer Kulturen gehört es, die Ehre von Männern und Frauen unter allen Umständen zu bewahren. Eine ehrenhafte Frau hat sich keusch zu verhalten (Sure 24,31), um den Mann nicht (sexuell) zu erregen . Nach muslimischem Verständnis gefährdet eine Frau, die zu offen mit einem Fremden spricht, sowohl ihre eigene Ehre als auch die ihres Ehemannes und untergräbt dessen Ruf.
Das bedeutet in der Fallstudie „Fahrrad“, dass die Frage des Geschlechts in Frage 3 mit hoher Wahrscheinlichkeit die wahre Konfliktursache ist . Die Polizeibeamtin, die nach ihrem Verhaltenskodex einer westlichen Polizei handelt, ist in den Augen des jungen Mannes vermutlich keine ehrenhafte Frau, weil sie sich entgegen seiner Auffassung von weiblicher Ehre verhält. Sein Verhalten mag das negative, klischeehafte westliche Frauenbild widerspiegeln, das einige muslimische Männer haben, weil die Frauen sich nicht so verhalten, wie es religiöse Regeln vorschreiben. Aber es kann auch eine andere Erklärung geben.
In muslimischen Gesellschaften müssen strenge Verhaltensvorschriften eingehalten werden. Blick- und Körperkontakte zwischen muslimischen Männern und Frauen, die nicht zur Familie gehören, sind extrem selten. Selbst Händeschütteln kann problematisch sein. Es ist in muslimischen Kulturen immer an der Frau zu entscheiden, ob sie einem Mann die Hand gibt. In der Fallstudie „Fahrrad“ handelt der junge Mann möglicherweise gemäß seinem Verhaltenskodex. Die Polizistin nicht anzuschauen würde in diesem Falle bedeuten, dass er sie mit Respekt behandelt.
Die muslimische Religion beruht auf fünf Säulen: Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosengabe, Fasten (Ramadan) und Wallfahrt nach Mekka.
Wer die muslimische Religion praktiziert , sollte fünf Mal täglich beten. Dabei ist es dem Einzelnen überlassen, wie er die Gebetszeiten mit anderen Pflichten vereinbart. Viele Muslime legen besonderen Wert auf das Freitagsgebet, insbesondere dann, wenn sie der Pflicht zum Gebet während der Woche nicht nachkommen konnten. Möglicherweise spielt diese Erklärung in der Fallstudie ebenfalls eine Rolle (Frage 2).
Es ist zwar verständlich, dass der junge Mann unter emotionalem Druck stand, jedoch ist es unwahrscheinlich, dass dies der Grund dafür ist, dass er nur mit dem männlichen Beamten gesprochen hat (Frage 4). Die bereits erläuterte Geschlechterproblematik ist wohl eher der tatsächliche Grund für sein Verhalten.
Hinweise:
- Nehmen Sie Verhalten nicht persönlich – es kann kulturell bedingt sein.
- Akzeptieren Sie , dass die Geschlechterfrage in anderen Kulturen anders behandelt wird
- Akzeptieren Sie, dass Religion in anderen Kulturen eine andere Rolle spielt.
- Vertrauen Sie Ihrer Professionalität hinsichtlich Ihrer Rolle und Ihres Status’.
- Bewahren Sie Ruhe und behalten Sie kulturelle Unterschiede bezüglich der Geschlechterrollen im Hinterkopf.
Interkulturelle Informationen zur Fallstudie ‘Tumult in einem Flüchtlingszentrum’
Es ist unwahrscheinlich, dass der Sozialarbeiter nicht bis zu der aufgebrachten Gruppe durchdringen konnte, weil er nicht laut genug war (Frage 1) oder weil er sich nicht ausreichend bemüht hat (Frage 2).
In der Fallstudie „Tumult in einem Flüchtlingszentrum“ spielt die Kulturdimension „Kollektivismus – Individualismus“ eventuell eine Rolle. Nordafrikanische Länder wie Marokko, Algerien und Tunesien sind stärker kollektivistisch als beispielsweise Polen, die Tschechische Republik oder Deutschland und Österreich.
In stärker kollektivistischen Kulturen kommt der Gruppe und den Interessen der Gruppe eine höhere Bedeutung zu als den Wünschen und Erwartungen des Einzelnen. Der Einzelne identifiziert sich mit der Gruppe und sich selbst über sie. Die angekündigte Abschiebung eines Flüchtlings betrifft daher die ganze Gruppe und nicht nur ein einzelnes Mitglied. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum sich in der Fallstudie „Tumult in einem Flüchtlingszentrum“ die ganze Gruppe in Aufruhr befand.
In kollektivistischen Kulturen mit stark autoritären Strukturen, wie zum Beispiel in Nordafrika, haben einige einzelne Mitglieder einen höheren Rang in der Gruppe und können als anerkannte Autorität betrachtet werden. In vielen kollektivistischen und hierarchischen Kulturen, zum Beispiel arabischen und afrikanischen, ist eine starke Stammesautorität sowohl Entscheidungsträger als auch Sprachrohr der Gruppe. Da der Sozialarbeiter in der Fallstudie „Tumult in einem Flüchtlingszentrum“ nicht zur Gruppe gehört, mangelt es ihm vermutlich an der nötigen Autorität (Frage 3).
In der Fallstudie „Tumult in einem Flüchtlingszentrum“ wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, über die Person zu kommunizieren, die die höchste Autorität in der Gruppe genießt. In dem Beispiel hätte der Sozialarbeiter versuchen können herauszufinden, welche Person am meisten respektiert wird und dieser Person die Lage zu erklären. Derjenige würde wiederum den Rest der Gruppe informieren. Es ist zu vermuten, dass der Sozialarbeiter in dieser Hinsicht nicht über entsprechende kommunikative Fertigkeiten verfügt (Frage 4).
Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass in nordafrikanischen Ländern wie beispielsweise Marokko mehrdeutige Situationen mehr Stress verursachen. Die Bekanntgabe der Abschiebung stellt an sich bereits eine höchst unklare und belastende Situation dar – umso mehr für Kulturen mit niedriger Ambiguitätstoleranz. Damit lässt sich die Unruhe in der Gruppe zum Teil erklären. Sobald die Lage eindeutiger wird (Dank der Informationen, die die Gruppe von der Gruppenautorität bekommt) , wird sich die gesamte Gruppe beruhigen
Hinweise:
- Bestimmen Sie die Person mit der höchsten Autorität indem Sie beispielsweise versuchen, die älteste Person zu finden oder indem Sie beobachten, wem die Gruppe sich zuwendet.
- Kommunizieren Sie nur mit der Person von der Sie glauben, dass sie höhere Autorität in der Gruppe genießt.
- Beruhigen Sie die Gruppe so gut Sie können.
Interkulturelle Informationen zur Fallstudie ‘Persönliche Beratung’ à Kulturelle Hinweise
In einigen Ländern wie beispielsweise im Nahen Osten aber auch in Osteuropa wird mehr auf der Beziehungsebene kommuniziert. In anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland ist man eher sachbezogen. In diesen Ländern geht es in der Kommunikation mehr um die anstehende Aufgabe als darum, Beziehungen aufzubauen.
Für Menschen aus Ländern, in denen es bei der Kommunikation mehr darum geht, gute Beziehungen herzustellen ist es wichtig, zunächst eine persönliche Basis zu schaffen bevor man sich einem ernsten Thema oder dem Geschäft zuwendet. Diese Absicht hatte der junge Mann in der Fallstudie vermutlich (Frage 3). Er hat versucht, eine persönliche Beziehung zu seinem Berater herzustellen. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass der junge Mann den Berater nicht respektiert (Frage 2).
Ganz im Gegenteil – da die Zusammenkunft für den jungen Mann so wichtig war, hat er sich vermutlich nach Kräften darum bemüht, freundlich zu sein indem er zahlreiche Fragen zu Themen gestellt hat, die andere der Privatsphäre zuordnen würden. Ob ein Thema als privat betrachtet wird oder nicht , kann eine Frage der Kultur sein. Einige arabische und afrikanische Kulturen verfügen über komplexe und höchst förmliche Begrüßungsmuster mit ritualisierten Fragen beispielsweise zu Familie, Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden. Es ist anzunehmen, dass der junge Mann Kommunikationsmuster reproduziert hat, die aus seiner Sicht in dieser wichtigen Situation angemessen waren (Frage 4).
Der Berater wiederum wollte vermutlich zunächst das beenden, woran er gearbeitet hatte, bevor er dem jungen Mann seine volle Aufmerksamkeit widmete. Hätte der Berater etwas mehr Erfahrung, hätte er wahrscheinlich die Gelegenheit genutzt, um ebenfalls ein paar Fragen zu stellen und damit einerseits höflich zu sein und andererseits mehr Informationen über den jungen Mann zu erhalten. Damit wäre Vertrauen aufgebaut und eine angenehme Atmosphäre auf beiden Seiten geschaffen worden.
Hinweise:
- Akzeptieren Sie dass scheinbar “private” Fragen für andere Kulturen nur höflich sind.
- Bedenken Sie, dass andere Kulturen andere Kommunikationsmuster haben, die Ihnen fremd erscheinen können.
- Versuchen Sie zu reagieren indem Sie ebenfalls ähnliche Fragen stellen. Ihr Gesprächspartner bringt Ihnen dann vielleicht Vertrauen und Offenheit entgegen.